Verfasserin: Julia
Gerade ist Schneeschmelze im wunderschönen T.. Neben den üblichen nassen Füßen auf dem Weg von der Arbeit zur Wohnung und von der Wohnung zum Stall bedeutet das bei uns vor allem eins:
Schneelawinen, die vom Hallendach abgehen.
Oder im Verständnis meines Pferdes: Potentiell tödliche pferdefressende Monster, die garantiert DANN vom Dach stürzen, wenn Pferd sich in absoluter Sicherheit wiegt.
Die entsprechende Reaktion des Pferdes – welche aus seiner Sicht vollkommen gerechtfertigt ist – können Sie sich / könnt ihr euch sicher ausmalen...
…und auch, mit welch’ gutem Gefühl man als Reiter auf dieser tickenden Zeitbombe sitzt, die jederzeit ungeplant hochgehen kann!
Heute war ich voller Bewunderung für eine junge Reiterin, höchstens 20, die mit ihrem Warmblutwallach mit in der – wir erinnern uns: potentiell jederzeit
lebensbedrohlichen – Reithalle war, als ich mein Pferd bewegen wollte.
Immer, wenn eine Lawine abging, und ihr Pferd sich erschrak (zugegeben nicht ganz so extrem wie meins, sei zur Rettung meiner Ehre an dieser Stelle angebracht), sagte sie exakt zwei Worte zu ihm: „Nicht schlimm.“
Mehr nicht.
Kein Gezerre am Zügel, kein Schimpfen – dafür pure Ignoranz, sie ritt einfach ganz normal weiter.
Ich verzichtete derweil dankend auf alles, was schneller war als Schritt, weil ich das ungeplant sowieso alle 5 Minuten aufgetischt bekam.
Unnötig zu sagen, dass ihr Pferd relativ schnell relativ gelassen wurde, was die Schneelawinen anging. Mein Pferd und ich waren damit beschäftigt, zu atmen und ansatzweise so etwas wie Losgelassenheit zu erarbeiten.
Nun ist „Angst auf dem Pferd“ eine ganz eigene Kategorie, von der ich uns allen wünsche, dass wir dort nie lange festhängen werden, weswegen ich nun auch nicht darauf eingehen möchte.
Aber woauch ich ganz ausgezeichnet mitreden kann, ist „Bammel auf dem Pferd“, die Lightversion von Angst. Ich finde es auch immens wichtig, dass dieses Thema nicht tabuisiert wird, denn es begleitet 90% aller Reiter, würde ich mal behaupten. Die restlichen 10% sind unter 10 Jahre alt oder einfach komplett abgebrüht / vielleicht sogar suizidal. Mein Reitlehrer hat mir mal ganz verdutzt erzählt, dass er in jungen Jahren mit Erstaunen festgestellt hat, dass viele Reiter Angst vor ihren Pferden haben. Mich erstaunt das nicht.
Wie bescheuert muss man sein, sich auf 500 Kilogramm reine Muskelmasse zu setzen, die primär vom Instinkt gesteuert wird und nicht mal unsere Sprache spricht? Ich finde das schon bedenklich manchmal. Vielleicht nicht beängstigend, weil ich meinem Pferd gelegentlich mehr Verstand attestiere als dem durchschnittlichen deutschen Autofahrer, aber doch insoweit bedenklich, dass ich ab und an Bammel habe, wenn ich reite.
Am Boden ist mir fast alles wurscht. Im Sattel ist es mit der Gelassenheit nicht immer so weit her.
Natürlich bin ich an vielem selbst Schuld. Wäre ich mal so entspannt wie die Zwanzigjährige heute in der Reithalle, würde selbst mein hoch im Blut stehender Wallach vielleicht nicht so wegen einer Dachlawine eskalieren.
Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich Bammel habe!
Ich bin dabei sehr diszipliniert. Ich steige trotzdem auf mein Pferd, und ich reite. Ich ziehe nicht an den Zügeln, ich verprügele ihn nicht, ich wünsche ihm lediglich verbal manchmal den Tod. Wirklich ruhiger wird er dadurch nicht. Ich möchte andererseits auch nicht erleben, wie er sich benähme, wenn ich oben drauf in offensichtliche Panik geriete.
Ich kriege den verdammten Bammel auch nicht los.
Es gibt gute Tage, an denen ich super Laune habe, wenig Stress hatte, gesund, fit und ausgeschlafen bin. Da sitze ich das Getue aus und geb’ nix drauf oder nur sehr wenig.
Und dann gibt es schlechtere Tage, an denen ich Stress auf der Arbeit hatte, allgemein deprimiert bin, an der Welt zweifle, kränkele oder schlecht geschlafen habe, so wie heute in der Reithalle.
Und nein, da sitze ich das nicht mehr „einfach“ aus.
Kommt da dann noch ein schlechtes Gefühl, nennen wir es „Vorahnung“, hinzu – dann ist mir mittlerweile alles egal. Dann stehe ich dazu, steige aus dem Sattel und mache was Anderes mit ihm. Ich bin aus dem Alter raus, in dem ich mir was beweisen muss – oder den Anderen.
Und – bad news – es wird mit dem Alter tatsächlich schlimmer. Nun bin ich gerade mal 30, aber trotzdem viel empfindlicher bei so was als noch vor 20 Jahren. Ich habe den Boden beim Reiten schon öfter unfreiwillig geküsst, als mir lieb ist, und ich lege auf dieses Erlebnis keinen Wert mehr. Vielleicht liegt es auch an der zunehmenden Vernunft, die einem ins Ohr wispert, was alles passieren könnte und welche Folgen das hat (als Kind war mir das schnurzegal, ob ich dienstunfähig werden könnte oder nicht!), oder an mehr (schmerzlicher) Erfahrung von Situationen, in denen es eben NICHT gut ging, oder dann eines Tages an zunehmender Unbeweglichkeit (noch weit davon entfernt, dankenswerterweise, aber man muss realistisch sein), und ich möchte mir gar nicht ausmalen, was für eine Schissbuchse ich sein werde, sollte ich jemals Kinder haben…
Nein, ich fürchte, es wird so schnell nicht mehr besser werden.
Ich möchte mal anmerken, dass ich wirklich sattelfest bin und mein Pferd mich – trotz zahlreicher dubioser Aktionen seinerseits – das letzte Mal vor 4 Jahren verloren hat, obwohl ich im Normalfall 6 Tage die Woche auf ihm sitze. Ich bin geübt, habe ein sehr gut ausgebildetes Pferd, mit dem ich zusammen die Ausbildung durchlaufen habe, habe passende Ausrüstung für das Tier, weiß mir zu helfen – und habe trotzdem Schiss.
Wer an dieser Stelle eine Musterlösung gegen das „Problemchen“ erwartet hat:
Es tut mir leid, ich habe keines.
Aber vielleicht zumindest ein paar Anregungen:
Man muss weniger Schiss haben, wenn
- man ein gut ausgebildetes, gesundes und rittiges Pferd hat
- dieses regelmäßig vom Boden und Sattel aus mit ungewöhnlichen, unerwarteten Situation konfrontiert – man kann nämlich vieles
üben! –
- die Ausrüstung gut sitzt, definitiv passt und regelmäßig kontrolliert wird
- man selber was für seine Gesundheit tut und somit körperlich fit bleibt
- das Pferd täglich Freilauf mit Artgenossen hat und Haltung und Fütterung insgesamt passen
- man sein Pferd gut kennt und umgekehrt
- man an „schlechten“ Tagen, d.h., wenn man gestresst, genervt, mürrisch, unausgeschlafen oder krank ist, gar nicht erst
aufsteigt (was einem das Pferd so oder so danken wird) oder etwas macht, was man händeln kann (z.B. eine entspannte Schrittrunde ins Gelände mit einem sicheren Begleitpferd)
- man übt, sich auch mal am Riemen zu reißen und nicht sofort das Handtuch zu werfen, wenn der Bammel
kommt – denn Reiten bedeutet nun mal auch, Kontrolle ein Stück weit abzugeben.
Wichtig ist nur, dass man den Bammel nicht überhand nehmen lässt, und das beginnt im Kopf. Dass man sich immer wieder selber in den Allerwertesten tritt und überwindet und aufsteigt. Und dass es deutlich (!) mehr gute als schlechte Tage gibt. Gibt es die nicht mehr, gibt es professionelle Hilfe, die in Anspruch zu nehmen man sich nicht schämen sollte, denn oft steckt ein ganz anderes, tieferliegendes Problem dahinter.
Und wenn das alles nichts hilft, und der Bammel trotzdem „heute“ überhand gewinnt?
Absteigen – und an dem Tag was anderes mit dem Tier machen.
So einfach ist das.