Über den selbstzweck von lektionen

Verfasserin: Julia

 

 

Wenn man zur Hautevolee gehören möchte, braucht man vor allem eines: Geld. Nach außen erkennbar durch "Gutschi" (Namen verändert aus rechtlichen Gründen – aber ihr wisst, was ich meine!).

 

 

 

Ich habe manchmal das Gefühl, das „Gutschi“ der Reiterwelt sind „Lektionen“. Denn wenn man dieses Wort, „Lektionen“, hört, denkt man sofort an Dinge wie Schulterherein, Traversalen, Galoppwechsel, oder – für die ganz Fortgeschrittenen – Passagen oder Piaffen.

 

 

 

Wenn man sich DIE auf die Fahne schreiben kann, DANN gehört man dazu, dann reitet man „OBEN“ mit.

 

 

 

Hiermit möchte ich die geneigte Leserschaft gleich mal enttäuschen.

 

 

 

Was ist denn nämlich die Definition von „Lektion“? Macht euch doch mal kurz selbst Gedanken drüber.

 

Stellt euch vor, dies hier wäre ein Arbeitsblatt, das ihr in der (Reit-)Schule ausfüllen sollt.

 

 

 

Also bitte:

 

 

 

„Erklären Sie knapp, was „Lektionen“ im Sinne der Reiterei sind.“

 

 

 

Eure Antwort: _________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________

 

 

 

Betreiben wir etwas Nachforschung auf der Suche nach einer möglichst korrekten Antwort.

 

 

 

Der Wahrig, seines Zeichens sowas wie der Duden, sagt, Lektionen seien

 

1) Abschnitte im Lehrbuch, Aufgaben,

 

2) Lehrstunden und er verweist auch noch (sensationell!) auf das sprichwörtliche

 

„jemandem eine Lektion erteilen, scharf zurechtweisen“ und

 

„jemand hat seine L. gelernt = hat seine Lehren daraus gezogen“.[1]

 

 

 

Die FN setzt in Band 1 der Richtlinien für Reiten und Fahren Lektionen mit „Übungen“ gleich.

 

 

 

Der Müseler (47. Auflage immerhin) lehrt uns, dass man mit Lektionen „alle Übungen, die dazu dienen, die wichtigsten Elemente der Dressur zu entwickeln, wie Losgelassenheit, Takt, Anlehnung, Geraderichtung und Schwung“ bezeichnet.

 

 

 

Oh nein – ist also nicht nur die Galopppirouette eine Lektion, sondern am Ende auch die gute alte Volte?

 

Oder gar nur das Reiten einer ganzen Bahn??!!

 

Reitet am Ende auch die kleine Hanni Lektionen, wenn sie mit ihrem dicken Zauselpony einen Zirkel in die Reitbahn fräst??!

 

 

 

Die Antwort lautet: ja, ja und ja.

 

 

 

Lektionen sind zunächst gar nichts elitäres, sondern die Basis der Reiterei überhaupt.

 

 

 

In dem Moment, in dem ich mich auf ein Pferd setze, um es irgendwie gezielt und mit Absicht der Gymnastizierung von A nach B zu schieben, reite ich schon eine Lektion.

 

 

 

Ganz penibel betrachtet wäre selbst das Aufsteigen und im Schritt anreiten üben mit einer Remonte schon eine Lektion. Es ist nämlich nichts anderes als eine Aufgabe/Übung, die es zu beherrschen gilt, mit dem Ziel des Gehorsams und der Durchlässigkeit des Pferdes.

 

 

 

Die Ausbildung eines Reitpferdes ist dementsprechend auch nichts anderes als eine Aneinanderreihung von aufeinander aufbauenden, sich ergänzenden und vom Schwierigkeitsgrad her steigernden Lektionen.

 

 

 

Leider wird dabei oft vergessen, dass der Wert einer Lektion nur so gut ist wie seine korrekte Ausführung!

 

 

 

Und, oft vergessen: Die sinnvolle und sinnhafte Platzierung der einzelnen Lektionen in der Ausbildung (!!) oder, kleiner gesehen, in der jeweiligen Trainingseinheit (!).

 

 

 

Wann hat das eigentlich begonnen, dass die Leute so scharf geworden sind auf diesen Ausdruck: „Lektion“?

 

Und warum zeigt mir das Reiten von ach so hohen Lektionen automatisch, dass ich ein toller Hecht auf dem Pferd bin? Kann mir das mal jemand erklären?

 

 

 

Ich glaube, dass die Jagd nach Lektionen auch mit den Social Media zu tun hat und damit, dass das Pferd heute Freizeitbeschäftigung und Statussymbol sowie Sportgerät zugleich ist und der Egobefriedigung dient.

 

 

 

Statt täglich Steinbrecht und Co. konsumieren wir alle lieber Facebook und Co. und sehen und lesen dort angeblich tolle Dinge.

 

 

 

Der Bauer, der früher mit seinen Pferden den Acker bearbeitete, hat jedenfalls eher selten vermeintlich hochqualifizierende Lektionen eingebaut (geschweige denn gekannt), seine Pferde aber mit nicht ungeringer Wahrscheinlichkeit vernünftiger behandelt als der Otto-Normal-Reiter.

 

 

 

„Lektion“ klingt auch einfach besser als „Übung“, und mit „Aufgabe“ verbinden wir eher Turnieraufgaben, die A** oder so. Die sind damit aber nicht per se gemeint.

 

 

 

An Lektionen kann man nun also auf zwei Wegen herangehen.

 

 

 

Weg 1- der „Idealweg“:

 

 

 

Ich lege mir einen gewissen Fahrplan (=Ausbildung) zurecht, schaue mein Pferd an und was ich mit ihm erreichen möchte. Dann beurteile ich, was es schon leisten kann und überlege mir, wie ich schrittweise an mein Ziel komme und gucke dann, was das Pferd spezifisch an dem jeweiligen Tag braucht (jeder Plan ist nur so gut wie seine Anpassung an die Realität). Dabei nehme ich jede vermeintlich noch so popelige Lektion gleich ernst wie die sogenannten „höheren“ Lektionen.

 

Soll heißen, ich reite meine Schlangenlinie durch die ganze Bahn genauso ernsthaft und bemüht wie meine Piaffen. Ziel ist die möglichst große Korrektheit der Lektion. Und ich erstelle mir den Ablauf meiner Reiteinheit so, dass ich am Ende der Reitstunde alles besser geritten bin als noch beim letzten Mal, egal, welche Lektionen dabei vorkommen.

 

 

 

Weg 2 – der „Normweg“:

 

 

 

Ich setze mich aufs Pferd und arbeite stur den von mir als notwendig erachteten Lektionenkanon ab. Ich reite also aus Pflichtgefühl zum Aufwärmen zwei schlampige Schlangenlinien pro Hand, baue eine Volte ein, die eher ein Ei ist, was mir aber egal ist, weil ich ja schließlich immerhin eine Volte geritten bin und gehe daraus dann in ein halbherziges angelegtes Schulterherein über. Daraus dann direkt ins Travers, wie das Pferd hinten und vorne tritt ist mir eigentlich gleich oder ich weiß es nicht besser, aber hey, ich reite Travers! Seht her, Travers!! Noch mal schön tief da hinten in die Ecke eiern, damit das auch die Trainerin von außerhalb, die gerade der Boxennachbarin auf ihrem Pferd Reitunterricht gibt, sieht. Boah, der hab ich mein Travers voll gezeigt, ey.

 

Dabei stehen weder die Korrektheit der Lektion noch ihre sinnvolle Platzierung in der Einheit im Vordergrund, entweder aus Desinteresse oder aus Nichtwissen oder beidem.

 

Sehr beliebt auch die Orientierung an irgendwelchen Regelwerken (was brauche ich noch mal für die M*?). Dann wird so lange dran rumgeübt, bis das mehr schlechte als rechte Travers in jeder Lebenslage überall abrufbar ist.

 

 

 

Leider sieht man Weg 1, das Ideal, kaum noch in deutschen Reitbahnen. Da wird lieber völlig sinnentleert und über Tempo durch die Bahn galoppiert und getrabt, sodass einem schwindelig wird und an den unmöglichsten Punkten die unpassendsten „Lektionen“ geübt. Ich bin immer wieder verwirrt, wenn ich anderen Leuten beim Reiten zusehe. Die wenigsten scheinen einen Plan von dem zu haben, was sie da tun und warum sie es tun

 

Zusammenhänge oder logisch aufeinander aufbauende Übungen sieht man nur noch sehr selten.

 

 

 

Zugegeben: Das Beschreiten von Weg 1 ist auch ein Prozess der geistigen Reifung und reiterlichen Entwicklung und braucht vor allem eines: Geduld!

 

Je bewusster einem die Zusammenhänge werden und je mehr man von „Reitkunst“ begreift, umso korrekter bemüht man sich, die Basis zu reiten.

 

 

 

Ich nehme eine einfache Schlangenlinie heute auch viel ernster als früher und achte auf ganz andere Dinge wie „damals“. Ich versuche, sie zu 101% korrekt zu reiten. Damit meine ich nicht nur die Linienführung.

 

Und wenn mein Reitlehrer in der Bahn steht, versuche ich sogar, 110% zu geben, auch „nur“ auf der Schlangenlinie oder Volte. Oder in der Ecke.

 

 

 

Wenn mir heute jemand erzählt, dass er sein Pferd mittels Travers im Schritt schon 5 Minuten nach dem Aufsteigen aufwärmt, den frage ich (wenn ich einen fiesen Tag habe) erst mal, warum er das macht. Wenn ich so richtig gemein bin, frage ich, was das eigentlich für eine Lektion ist, wie sie geritten wird und welchen Zweck sie hat.

 

 

 

Früher hätte ich gedacht: „Wow, Travers… Ich finde das total cool, das will ich auch, das ist ja bestimmt voll schwer. Der/die kann bestimmt voll gut reiten. Und ich kleiner Wicht übe immernoch den runden Zirkel.“

 

 

 

Aber: Ist das wirklich so fies, so nachzufragen, wie ich es heute tue?

 

 

 

Ich finde nicht.

 

 

 

Immerhin sitzen wir auf dem Rücken eines Lebewesens, für das wir komplett verantwortlich sind.

 

Da sollten wir, wenn wir schon meinen, reiterlich „klugscheißen“ zu müssen, wissen, was wir da oben treiben und wieso.

 

Denn – Ernüchterung Part X: Falsch ausgeführte Lektionen schaden mehr, als sie nutzen.

 

 

 

Wenn jemand wirklich so gut ist, wie er zu sein meint, dann wird er mir die Frage auch nicht übel nehmen, sondern sie beantworten können und auch bei weiteren Nachfragen nicht ins Trudeln kommen. Vielleicht freut er sich sogar darüber. Ich jedenfalls tue es, da es mir zeigt, dass jemand Dinge reflektiert und nicht einfach nur hinnimmt und vor allem, dass mehr dahinter steckt.

 

 

 

Ich erwarte übrigens besonders von einem Reitlehrer, dass er mir all sowas ohne großes Überlegen erläutern kann. Ihr könnt ja mal die Probe aufs Exempel machen und während einer Einheit nachfragen.

 

Die Schlüsse aus den Antworten zu ziehen überlasse ich euch dann selbst….. ;-) … aber auch das finde ich nicht gemein oder unkorrekt. Wenn ich zum Zahnarzt gehe, erwarte ich schließlich auch, dass der mehr Peilung von Zähnen hat als ich. Aber das nur am Rande.

 

 

 

Ich möchte hier übrigens kein Bashing von höheren Lektionen betreiben. Lektionen sind ja deswegen „entwickelt“ worden, weil sie eben Sinn und Zweck haben.

 

Ganz im Gegenteil: ich möchte ein Plädoyer dafür abliefern, sich eben jenem Sinn und Zweck der einzelnen Lektionen wieder mehr zu verschreiben und vor allem auch zu überprüfen, ob die Grundlagen dafür gegeben sind.

 

 

 

Apropos Grundlagen. Ich zitiere hier aus den Richtlinien Band 2, S.32 in der Auflage von 1997:

 

 

 

„Nur der Reiter, der diese Zusammenhänge wirklich verstanden hat und umzusetzen vermag, wird die Ausbildung des Pferdes auf allen Stufen erfolgreich und dabei harmonisch gestalten können. Die Grundkriterien dürfen auch mit zunehmender Ausbildung niemals vernachlässigt und durch bloßes Einüben von Lektionen ersetzt werden.“

 

 

 

Haltet euch also wenigstens ein einziges Mal an die Worte der FN!!!! ;-)

 

 

 

… und bitte nicht an den Wahrig – also nicht einfach nur bis zum Erbrechen die Lektionen üben und dem Pferd eine Lektion erteilen, bis es seine Lektion gelernt hat.

 

 

 

 

[1] Wahrig: Die deutsche Rechtschreibung. Gütersloh/München, 2006.