Verfasserin: Julia
Es gibt Leute, die haben Selbstbewusstsein. Ein riesengroßes Selbstbewusstsein, Goliath-mäßig, ich fühle mich daneben wie klein-David, und ich frage mich, wo nehmen die das her?
Ich freue mich für jeden, der sich freut, weil er Reiten toll findet, weil er das Hobby mag, weil er sich dort wohl und angekommen fühlt. Ganz ehrlich? Top! Schön! Klasse! Weiter so!
Ich finde es auch vollkommen in Ordnung, sowas online zu posten (tue ich ja auch) oder auch mal zu schreiben: Heute hatte ich eine spitzen Reitstunde, mein Reitlehrer hat mich gelobt, mein Pferd war super.
Was mir dagegen tierisch auf den Zeiger geht, ist wenn jemand ständig (!) schreibt: Ich hatte eine superduperhyperschönemegagute Reitstunde. Das Pferd lief so gut wie noch nie. Mir fliegt alles zu. Mein Reitlehrer hat mir immenses Talent attestiert.
Ich attestiere: immensen Größenwahn.
Ich sitze seit 25 Jahren im Sattel, mindestens wöchentlich, die letzten 10 Jahre davon fast täglich. Ich war in wirklich vielen Ställen, ich kenne echt viele Reiter, und ich habe seit meinen Anfängen als Kinderbetreuerin auf einem Ponyhof bis zur Schule auf der Erde mit meinem eigenen Pferd viele viele Reiter auf dem Pferd gesehen und auch unterrichtet.
Immenses Talent habe ich in dieser Zeit vielleicht (!) 3 oder 4 Mal gesehen.
Offenbar haben diese 4 Reiter sich durch Knospung vermehrt und sind nun alle auf Social Media-Kanälen tätig! So viel Talent, wie neuerdings da draußen rumläuft, kann ich mir sonst nämlich beim besten Willen nicht erklären.
Komischerweise reiten manche meiner ursprünglich attestierten 3-4 Menschen mit Ausnahmetalent inzwischen aber gar nicht mehr – und im hohen Sport ist keiner von denen, die noch im Sattel sitzen, gelandet. (siehe auch ganz unten)
Auf mein 13-jähriges Pferd kann ich meine 6-jährige Nichte setzen und ihn piaffieren lassen. Solange sie die Zügel vorne nicht zu fest hält und es irgendwie schafft, halbwegs gerade im Sattel zu bleiben, ist diese Lektion bei meinem Pferd zu 100% immer, überall und unter jedem (!) abrufbar – ein Beweis, den ich schon mehrfach erbracht habe.
Heißt das jetzt, dass meine 6-jährige Nichte, die in ihrem Leben vielleicht 20 Mal auf einem Pferd saß, ein Ausnahmetalent ist?
Ich möchte gerne 2 Gruppen von Talenten unterscheiden, und ich möchte auch sagen, welche für mich die „Wertvollere“ ist.
Da gibt es die talentierten Reiter. Ich nenne sie auch gerne „Nach-Reiter“. Sie haben oft die perfekte Reiterfigur, also lange, schlanke Beine, einen geraden Körperbau ohne größere Baustellen, sind ausbalanciert und mit gutem Körpergefühl ausgestattet. Sie sitzen auf einem ausgebildeten Pferd wie gemalt, sie können es schön vorstellen, und überhaupt ist alles, was sie tun, irgendwie grazil und hübsch.
Leider können sie jedoch nur nach-reiten. Sie können die Hilfen abrufen, die das Pferd schon beherrscht, und sie können dadurch auf dem Turnier gute Wertnoten abstauben.
Was sie nicht können, noch nie konnten und vielleicht in ihrer Turnierwelt auch gar nicht müssen, ist ausbilden, also, einem jungen Pferd die Lektionen beibringen, es vom Nichts in die Perfektion führen.
Aber hey, dafür schauen sie gut aus!
Dann gibt es die talentierten Ausbilder. Man kann sie auch „Hin-Reiter“ nennen. Deren Figur ist erst mal ziemlich wurscht, wobei sich das Pferd natürlich auch hier mit der perfekten Reiterfigur obendrauf leichter tut. Die Ausbilder sitzen irgendwie auf dem Pferd, im besten Fall fast korrekt, sie haben pädagogisches Geschick, Gespür und Gefühl für das Pferd, sie merken, wenn dem Tier irgendwie irgendwo was klemmt, und sie verstehen ihr Handwerkszeug, auch wenn es vielleicht phasenweise nicht nach dem perfekten Dressursitz aussieht, den sie auf des Pferdes Rücken einnehmen. Sie können die Skala der Ausbildung nicht nur auswendig, sondern sie haben sie auch begriffen und verstanden, und sie können sie anwenden und ihr folgen. Sie sind die Ausbilder, die, denen die Nach-Reiter verdanken, dass sie auf dem Pferd gut aussehen können, denn sie haben das Pferd so gehorsam und rittig gemacht und ihm alle Hilfen begreiflich gemacht, sodass der Nach-Reiter auf dem Turnier abstauben kann. Nur der Ausbilder hat wirklich begriffen, was ein Pferd ist, und was es benötigt, und was Reiten tatsächlich ist, und was es ausmacht, und vor allem wie man es trainieren muss, um lange etwas davon zu haben.
Dafür sieht er manchmal nicht so gut aus, wenn er ein Pferd durch die ersten Schritte der Schrittpirouette führt, oder in den ersten Galopptraversalen, wenn noch mehr Gewichtshilfe nötig ist, um das Pferd von A nach B zu bewegen, oder die Hilfe zum Fliegenden Galoppwechsel muss noch deutlicher kommen als dann später in der S-Kür.
Ansatzweise „Ausbilder“ darf sich in meiner Welt nur jemand schimpfen, der MINDESTENS ein Pferd schon MINDESTENS bis M in der Dressur gebracht hat, und zwar so, dass nur ER dem Pferd die Sachen beigebracht hat, Unterricht mit dem Pferd nehmen ist genehm und auch absolut sinnvoll und kein k.o.-Kriterium. Warum mindestens M? Weil da die interessanten Lektionen beginnen und Versammlung tatsächlich gezeigt werden muss.
„Aber Lischen Müller war schon mal beim Einreiten eines Schulponys dabei!“
Das ist ganz toll. Aber Einreiten hat mit Ausbildung nicht zwingend was zu tun – geländesicher gemacht habe ich junge Pferde schon mit 15 Jahren, da ist nichts dabei, und Ahnung hatte ich damals auch so gut wie keine, und für ein bisschen Schritt, Trab, Galopp auf dem Reitplatz und im Gelände brauche ich keine Ingrid Klimke zu sein.
Interessant wird es, wenn das Pferd über Jahre ausschließlich in ein und derselben Hand war und nur einen einzigen ständigen Reiter hatte.
Und wenn es DANN reell geritten ist, bis M oder über M hinaus geht, dabei gesund war und ist, Freude an der Arbeit hat, gut dasteht und nachreitbar ist, DANN sprechen wir von einem Ausbilder.
Und der zählt für mich viel mehr als jeder gute Nach-Reiter.
Wer dürfte denn jetzt hier noch mitreden? –
Meine 6-jährige Nichte schon mal nicht, auch wenn mein Pferd übermorgen noch mit ihr piaffieren würde.
Der Grund für ihren „Erfolg“ in der Piaffe ist vielmehr eine Kombination aus einem wirklich motivierten Pferd, das zugleich so gut dressiert und ausgebildet wurde, dass es eine nahezu perfekte Piaffe auch unter einem völligen Anfänger zeigen kann.
Idealerweise ist der perfekte Ausbilder auch ein perfekter Nach-Reiter, aber ganz oft habe ich erlebt, dass das nicht zusammenfiel. Viele Ausbilder werkeln im Hintergrund, richten die Pferde her, auf dem Turnier heimst dann aber jemand anders die Schleifchen ein.
Zurück zum Pferde-Ausbilder.
Wer schonmal den o.g. Weg gegangen ist, weiß, wie viele schlaflose Nächte der einem gerade beim ersten Mal bereitet. Wie lange es dauert, bis die Piaffe immer und überall spielerisch abrufbar ist – und das vor allem korrekt. Wie oft man verzweifelt, wie viele Nerven es einen kostet, und wie schwer Reiten sein kann, wenn man wirklich hohe Ansprüche daran hat. Es besteht oft aus Versuch und Irrtum, aus Timing, Blut, Schweiß, Tränen, Geld und vor allem: aus Disziplin. Aus Dranbleiben, über Jahre, jede Woche, manchmal jeden Tag. Wer noch nie selbst ein Pferd bis in die höheren Register ausgebildet hat, weiß nicht, WAS für eine Aufgabe das ist.
… und schreibt dann bitte nicht zum wiederholten Male, wie talentiert er ist, weil er auf dem gut ausgebildeten Pferd Y Lektion X nachreiten konnte.
Leben könnte ich dagegen mit „Es ist mir gelungen, Lektion X nachzureiten, ohne mein Pferd dabei zu behindern“.
DAS wäre realitätsnah.
Aber bitte nicht ständig diese Selbstbeweihräucherung, weil man es geschafft hat, den Schenkel von A nach B zu legen.
Dankt mal lieber dem Heino, der euer Pferd so ausgebildet hat, dass ihr es nachreiten könnt. Das wird wiederum der Heino euch dann danken.
Vielleicht liegt der plötzliche Tsunami an Talenten auch an gesunkenen Ansprüchen in der Reiterwelt, die der Basis schon lange nicht mehr gelehrt und vor allem kaum von oben vorgelebt werden. Eine gute Freundin von mir war um die 27 Jahre alt, Trainer C FN, turniererprobt, unterrichtserprobt – und völlig fertig mit den Nerven, weil sie auf meinem Kleinpferd zum ersten Mal einen wirklich losgelassenen, schwingenden Rücken bei minimalem „Kraftaufwand“ an Schenkel und Zügel erlebte. Mit 27 Jahren!!!
Nicht falsch verstehen – sie hat sich mir gegenüber nie als Goliath gebärdet, ganz im Gegenteil, sie war offen und reflektiert und hat ihre Reiterei mittlerweile komplett umgestellt, weil sie merkte, da läuft was schief – davor ziehe ich meinen Hut, sie liebt Pferde wirklich und hat in nicht mal einem halben Jahr beträchtliche Fortschritte gemacht und gelernt. Gerade ackert sie sich durch die Höhen und Tiefen der Ausbildung ihrer jungen Stute und wird zum Heino.
Aber sie ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass man lange und erfolgreich reiten kann, ohne „reell“ zu reiten.
Ich kann gar nicht so viele Leute auf mein Pferd setzen, wie ich gerne würde – da kriegt man motiviertes Pferd, das es einem immer Recht machen möchte und versucht, sich bestmöglichst auf einen Fremdreiter einzustellen, nämlich die Krise. Und ich auch. Und so manchen will ich auch gar nicht drauflassen.
Da kommt dann der Heino in mir durch.
Und der hat durchaus so etwas wie Stolz.
P.s.: Woran liegt es nun eigentlich, dass viele wirkliche Talente es nicht bis nach oben schaffen?
Talent hat einen großen Nachteil: Es macht bequem. Wenn einem immer alles zufliegt, muss man sich nicht so intensiv mit der Thematik beschäftigen, als wenn man für jeden Fortschritt mühsam ackern muss. Jedoch gelangt auch der Talentierte an den Punkt, an dem es schwierig wird – und hier werfen viele dann das Handtuch. Es tut weh, einmal nicht sofort voranzukommen. Der „Untalentierte“ kennt es nicht anders: Er hat gelernt, dass er, um Fortschritte machen zu können, Dürreperioden überstehen muss und dass es ohne Durchhalten und diszipliniertes Üben nicht voran geht. Er beißt sich durch. Der Talentierte erhält in so einem Moment jedoch den Schock seines Lebens – und hat dann keine Lust mehr.
Manchmal bin ich sehr froh drum, dass ich nur ein mittelprächtig talentierter Reiter bin und all meine Defizite, körperlich wie geistig, durch Üben wettmachen muss. Vielleicht hält mich diese stete Herausforderung auch erst am Ball… How good that we like a challenge.