Verfasserin: Julia
Reiter sind ein bisschen wie Junkies. Ihr „Stoff“ ist das Pferd, und sie brauchen ihren Stoff regelmäßig, sonst kippt die Laune, alles ist doof und ausgelastet ist man auch nicht. Was machen eigentlich Leute ohne Pferde mit der ganzen Zeit? Der Reiterjunkie ist ja nahezu jeden Tag am Stall und verbringt dort mehrere Stunden. Einen kalten Entzug bekommt nur er im Familienurlaub in Madrid ohne Pferde oder bei schwerster Krankheit und Bettlägerigkeit. Der Reiterjunkie hat sich seinen Stoff selbst gewählt, und auch der Entzug liegt zumeist in seiner eigenen Hand. Doch warum entziehen sich eigentlich Pferde? Und was macht man dagegen?
„Entziehen“ ist ein deutsches Verb mit mehreren Bedeutungsebenen. Die wohl geläufigste ist die des Wegnehmens: Er entzog ihr die Kreditkarte. Anders sieht es hier aus: Sie entzog sich ihm, das bedeutet, sie blieb ihm fern, hielt sich von ihm fern, ließ ihn nicht mehr an sich heran. Laut Duden gibt es aber noch eine Bedeutung, und die hat es für unseren Bereich des Pferdes und Reitens in sich:
„Nicht länger zur Nutzung überlassen.“
Bäm.
Das sitzt, lasst das ruhig mal sacken.
Es ist doch wahr: Wir be-nutzen das Pferd für unsere Zwecke, sei es vor der Kutsche, unter dem Sattel oder an der Hand.
Wenn sich das Pferd entzieht, überlässt es sich selbst nicht länger unserer Nutzung.
Wer ein bisschen empathisch ist, kapiert schon jetzt, dass irgendetwas gerade nicht passen kann, wenn sich das Pferd entzieht – meistens sind Pferde nämlich sehr kooperative, arbeitswillige Tiere.
Klassische Beispiele des Entziehens unter dem Sattel wären:
Das Pferd reißt beim Schenkelweichen / Rückwärtsrichten / egal was den Kopf hoch und drückt den Rücken weg. Es überlässt sich selbst und seine Kopf-/Hals-Haltung nicht länger der Nutzung des Reiters.
Auch beliebt und in derselben Kategorie angesiedelt: das Kopfschlagen. Fast immer ist hieran körperliche Unzulänglichkeit des Pferdes schuld, sehr oft jedoch auch falsche Hilfengebung des Reiters, zum Beispiel zu harte Paraden oder Hände.
Das Pferd legt an Tempo zu, auch hier wieder in jeder beliebigen Lektion. Höchste Steigerung dessen: das Durchgehen. Das Pferd entzieht dem Reiter hierbei die Kontrolle über das Tempo.
Das Pferd zeigt die gewünschte Lektion nicht, sondern bietet immer wieder eine (oder mehrere) andere an. Das kann ein simples Anhalten sein, das der Reiter will, stattdessen bekommt er Gezappel an Ort und Stelle. Auch geistige Überforderung bricht sich durch entziehen Bahn!
Das Pferd weicht mit der Hinterhand aus und tritt weder unter den Schwerpunkt, noch spurt es ein. Gerne gesehen auf dem Zirkel. Hierbei ist nahezu immer das Pferd steif und kann sich einfach in dem jeweiligen Moment nicht vernünftig biegen. Oder der Reiter pennt oben drauf und vergisst die korrekte Hilfegebung.
Das Pferd bockt/ buckelt/ steigt. Klassische Höhepunkte des Entziehens, die sich meist vorher schon anderweitig angekündigt haben.
Meiner Erfahrung nach sind Pferde sehr, seeehr (!) erfinderisch, was das Entziehen angeht – und je weiter die Ausbildung voran schreitet, umso kreativer werden sie.
Mein recht weit ausgebildeter älterer Wallach hatte als 2-Jähriger hinten rechts einen Sehnenanriss. Bis heute fällt ihm die Lastaufnahme an manchen Tagen dort schwerer als links. Früher entzog er sich gerne durch Tempo zulegen, was auch heute immer noch gelegentlich passiert. Inzwischen habe ich ihm ja aber auch jede Menge Lektionen beigebracht. Und wer glaubt, dass sich ein hoch ausgebildetes Pferd nicht mehr entzieht, der irrt:
Es entzieht sich nur anders.
Mein Wallach beispielsweise piaffiert dann lieber, als dem Schenkel zu weichen. Oder zeigt eine Passage statt des gewünschten versammelten Trabs.
Es passiert selten – aber es passiert! Und es ist immer wieder spannend, WIE es passiert.
Die guten Nachrichten zuerst:
Nur ein dummes Pferd wird sich nie entziehen. Oder eines, welches völlig apathisch ist und beim Reiten in den Maschinenmodus wechselt. Beides will ich persönlich nicht und ihr hoffentlich auch nicht. Ein Hoch auf alle klugen Pferde!
Entziehen ist in einem gewissen Rahmen vollkommen normal. Bitte schreibt euch das hinter die Ohren!! Es ist kein Zeichen des Versagens, wenn das Pferd sich mal entzieht. Das wird euch mit dem bestausgebildetsten Pferd passieren und auch bei dem mit dem tollsten Körperbau. Noch mal zur Erinnerung: Pferde sind Lebewesen und keine Maschinen. Und selbst auf Letzere ist nicht immer Verlass.
Oft dauert ein Entziehen nur wenige Sekunden, ehe das Pferd wieder an den Hilfen steht. Und wenn es eben ein paar Sekunden länger dauert, ist das auch kein Beweis dafür, dass ihr nichts könnt – lieber ein bisschen länger gebraucht und sanft (!) korrigiert, als der berühmte Insterburger und das Pferd beißt sich vor Schreck die Brusthaare ab.
Das Entziehen gibt uns Rückschlüsse auf unsere Reiterei und den Gesamtzustand des Pferdes. Einen unpassenden Sattel kann man beispielsweise als Reitlehrer sehr schnell ausfindig machen, wenn das Pferd protestiert, es spiegelt aber auch den aktuellen Ausbildungsstand und körperliche Gebrechen. Mit den Jahren lernt man, die Pferde besser und besser zu lesen, was einem in der täglichen Arbeit unendlich viel bringt. Man will vielleicht nicht immer in den Spiegel schauen, wenn man Mist gebaut hat, aber es ist die beste Kur und das Pferd ein hervorragender Lehrmeister.
Wir alle machen Fehler. Wer frei davon ist, möge bitte den ersten Stein werfen. Jeder von uns ist mal eine Sekunde zu hart in der Hand, jeder von uns sitzt mal kurz nicht ideal. Pferde verzeihen das, aber wir müssen ihnen auch verzeihen, dass sie uns den Spiegel vorhalten und Rückmeldung geben, dass da gerade etwas nicht gepasst hat.
Wie geht man nun sinnigerweise damit um, wenn sich das Pferd entzieht?
Schritt 1: Hinterfragen.
Reflektieren: Was habe ich gerade in diesem Moment gemacht, lag es an mir (Parade zu gefühllos gegeben?) oder kam ein Umweltreiz (Schneelawine vom Reithallendach…..) oder habe ich die Übung zu lange geritten (Pferd überfordert, geistig oder körperlich)?
Schritt 2: Korrigieren.
Nicht strafen, sondern einfach weiterreiten. Neu sortieren, korrigieren, indem man das Pferd wieder an die Hilfen stellt. Vollkommen emotionslos, immer daran denken: Jeder Mensch macht Fehler, und unsere Pferde auch. Gesteht es euch – und ihnen! – zu!
Schritt 3: Lehren daraus ziehen.
Künftig eben weicher parieren. Oder kürzere Reprisen reiten. Mehr Pausen machen. Ausrüstung und Gesundheitszustand des Pferdes überprüfen. Wie ihr merkt, geht es ohne Schritt 1 nicht, wenn man das Entziehen künftig minimieren will. Und wenn man überhaupt ein echter Reiter werden will.
Ganz wichtig:
Entzieht sich ein Pferd oft oder immer häufiger (läuft wie eine Giraffe, will sich nicht biegen, geht häufig durch, …), muss dringend überprüft werden:
Passt der Sattel noch?
Sind Zaumzeug und Gebiss passend?
Gibt es sonstige Ausrüstungsmängel?
Ist die Haltung für das Pferd passend?
Was war am Tag zuvor? Hat das Pferd Muskelkater oder stand es stundenlang ohne Schutz im eiskalten Regen?
Stimmen die Hufe, sind die Zähne in Ordnung?
Hat das Pferd körperliche Gebrechen? Kissing Spines oder eine Hufrollenentzündung sieht man nicht sofort von außen, sie können dem Tier aber die Hölle auf Erden bereiten, noch ehe es akut lahm geht! Die Kosten für den Check up durch den Tierarzt sollten im Sinne des Pferdes nie gescheut werden!
Und last, but not least: Bin ich selber wirklich ein so guter Reiter, wie ich glaube? Selbstüberschätzung ist eines der größten Probleme in der Pferdeszene, und ich habe das Gefühl, es nimmt weiter zu.
Bitte auf keinen Fall einfach Hilfszügel einschnallen („Schlaufzügel helfen voll gut“ – NEIN! Sie kaschieren nur das zugrundeliegende Problem!!!!) oder ein schärferes Gebiss nehmen, sondern sich selbst und alles andere in Frage stellen!!!!!!!!!!
Oftmals empfiehlt es sich auch, mal einen anderen Sattler, Tierarzt oder Reitlehrer zu holen. Manchmal wird man „betriebsblind“, oder jemand anders hat eine andere Idee oder sieht etwas anderes als das „Standardteam“. Was nicht automatisch heißen muss, dass Letzteres schlecht ist.
Fassen wir also zusammen:
Körperliche Unzulänglichkeiten, unpassende Ausrüstung, Umweltreize, Reiterfehler, geistige Überforderung und falsche Ausbildung (von Pferd UND Reiter!) sorgen also dafür, dass sich unser Pferd entzieht.
Und um die Liste noch zu vervollständigen:
Ja.
Es gibt sie.
Pferde, die tatsächlich nicht WOLLEN.
Die renitent sind.
Sich verweigern.
Das ist aber nur in einem von 100 Fällen ein Zeichen schlechten Charakters (auch den gibt es).
Ein anderer Fall ist jugendliche Renitenz, denn auch ein Pferd muss erst Arbeitsmoral lernen. Die verschwindet aber innerhalb des ersten Jahres, maximal innerhalb der ersten 2 Jahre unter dem Sattel.
Die restlichen 98 Fälle sagen mir vor allem eins: Dass der Reiter irgendwann, irgendwo einen großen Fehler gemacht hat, der dazu führte, dass das Pferd künftig blockiert.
Sie sind ergo hausgemacht.
Das kann zu große Härte dem Tier gegenüber sein, jeder von uns hat schon einmal ein „saures“ Pferd gesehen, eines, das nicht mehr mit dem Menschen kooperieren will, die „Schnauze voll“ hat, weil es zu oft geprügelt, überfordert oder in seinen Bedürfnissen ignoriert wurde.
Zu wenig Motivation und Lob. Gerade in den Anfängen der reiterlichen Ausbildung ist es wichtig, dem Pferd Freude an der Arbeit zu vermitteln. Es soll immer wach und bereitwillig in die Arbeit kommen und sich freuen darüber, dass es „etwas schaffen“ darf. Lieber lobe ich einmal zu viel als zu wenig. Im besten Fall geht das Pferd am Ende jeder Trainingseinheit mit einem guten Gefühl nach Hause, was nicht bedeutet, dass alles immer glatt laufen muss.
Zu große Ignoranz und Unwissenheit dem Pferd gegenüber. Ein Pferd, welches über Jahre mit unpassendem Sattel und Zaumzeug geritten wurde, das mit Gerte, Sporen und Kandare gepiesakt wurde und dessen Muskeln völlig atrophiert und/oder entzündet sind, macht irgendwann aus Schmerzen und Verzweiflung „dicht“. Eine Tatsache, die man dem Tier nicht übel nehmen kann. Und eine menschliche Grausamkeit, die man kaum verzeihen kann.
All diese Pferde müssen in die „Reha“, wenn sie noch mal wieder als Reitpferd und Nutztier „funktionieren“ sollen. Sie müssen ihre schlechten Erfahrungen verdrängen können, abschalten dürfen, pausieren. Und dann reflektiert und besser als vorher, mit viel Zeit und Geduld, am besten vom Profi, wieder angearbeitet werden.
Beherzigt man das nicht, entziehen sie einem vielleicht komplett die Reiterlaubnis – und stellen ihrem Reiter stattdessen einen Flugschein Richtung Hallensand aus….. und das vermutlich sogar zu Recht.