Reitest Du noch oder gymnastizierst Du schon?

Eine Spurensuche...

Verfasserin: Katharina 

 

 

Immer häufiger wird in meinem reiterlichen Umfeld voller Selbstverständlichkeit geäußert: "Ich gymnastiziere mein Pferd."

 

Ist das ein neues Modewort? 
Das Wort des Jahres?

 

Natürlich kenne ich "Gymnastizierung".  Aber solch ein inflationärer Gebrauch dieses Begriffs?


Als ich Ende der 90er mein erstes Pferd bekam, hat mein Bekanntenkreis jedenfalls nicht in diesem Ausmaß seine Pferde gymnastiziert. Oder vielleicht wurde nur nicht darüber geredet.

Heutzutage gymnastiziert jedenfalls gefühlt jeder!

 

Die Pferdewelt ist also voll von gut gerittenen, durchlässigen, willig an den Hilfen stehenden Pferden.
Jeder Reiter geht auf die Bedürfnisse seines Pferdes ein und vermag völlig richtig einzuschätzen, zu welchem Zeitpunkt er welche Lektion zielführend einsetzt.

 

Respekt.

 

Das ist der Moment, an dem ich mich in der Box meines Friesen verkrieche und ihm etwas betrübt in seine schwarze Lockenmähne schniefe.
Weil: Mähne pflegen. Das kann ich.


Gymnastizierung meines Pferdes?  Kann ich das? Und vor allem: mache ich es auch richtig?
Und wieso stelle ich mir diese Fragen überhaupt?

 

Alle anderen können es doch scheinbar auch.

 

"Warum hast du dein Martingal so tief verschnallt." - "Na zum gymnastizieren."

"Gehst du mit ausreiten?" - "Nein, ich muss mal wieder gymnastizieren."

 

"Ist der Anstieg an der Stelle nicht ein bisschen steil?" - "Quatsch, das ist zum gymnastizieren"

 

Überall dieses G-wort. Und noch dazu so selbstverständlich benutzt.

 

Und ich? Ich zweifle und hinterfrage ständig.

Also begebe ich mich auf eine Reise.  


"Auf der Suche nach dem Inhalt und Sinn der Gymnastizierung"

 

Ich beginne mit meinem Lieblings- Standardwerk , der HdV 12.
Unter den Ausführungen zum "Ziel der Dressur"  in Teil C Kap. 62 stoße ich auf den Begriff, nach dem ich suche:

 

"Um alle Anforderungen [...] erfüllen zu können bedarf das Pferd planmäßiger gymnastischer Durchbildung seines Körpers und sorgsamer Erziehung.
Beides zusammen nennt man Dressur."

 

Ich versuche das zu verstehen. 

Planmäßig soll sie also sein, diese gymnastische Durchbildung.

In der Praxis denke ich dabei an unzählige Knoten in meinem Kopf, während der letzten Reitkurse.  Abkauen, den richtigen Moment spüren, nachgeben... Jetzt durchhalten, JETZT nachgeben.
"Was sie am inneren Zügel tun wollen, das tun sie stattdessen mit dem inneren Schenkel."  höre ich Herrn W. sagen. 


Es ist eigentlich seit Jahren immer dasselbe. Ich übe mich schlichtweg erstmal nur in zuhören,  purer Koordination und sehr viel Gefühl!
Einen konkreten Plan für mein Pferd habe ich an dieser Stelle der Reitstunde noch nicht. 

Herr W. natürlich schon!

 

Abends, Zuhause, wenn ich dem Friesen beim Fressen zusehe und den Reitkurs Revue passieren lasse...Dann setzt das Verständnis ein, WAS wir eigentlich gemacht haben und WARUM. Der Knoten im Kopf beginnt sich zu lösen.
Und in den darauffolgenden Wochen bemühe ich mich, alles möglichst konzentriert nachzureiten und ganz wichtig: zu spüren.

 

Also ja. Für jeweils einen kurzen Ausbildungsabschnitt habe ich einen Plan für die gymnastizierende Arbeit mit meinem Pferd. 

Er ist speziell auf die momentanen physischen und psychischen Bedürfnisse des Schwarzen angepasst.  Eine Massanfertigung für ihn, sozusagen. 

Mit fortschreitendem Training wird sich auch der Plan weiterentwickeln, genauso wie nach Trainingspausen auf bereits bewährtes zurückgegriffen werden kann.

 

Nun aber weiter in der HdV, denn da lese ich noch mehr:


"Sie [die Dressur] setzt sich zum Ziel, das Pferd zur höchsten Leistungsfähigkeit auszubilden und es gehorsam zu machen. Dieses Ziel wird nur erreicht, wenn das Pferd unter Erhaltung und Förderung seiner natürlichen Anlagen in eine Form und Haltung gebracht wird in der es seine Kräfte voll entfalten kann."

 

Erhaltung der natürlichen Anlagen?


Beim Friesen also ein zu kurzer Rücken, ein mieser Halsansatz, eine ausgeprägte Rippenwölbung und: Schenkelgänger von Geburt an?
Zugegeben kenne ich die Schwachstellen meines Pferdes.  

Um seine Gefühle nicht zu verletzen sagen wir einfach: er ist exterieurkreativ mit liebenswertem Charakter.

An dieser Stelle bringt mich die HdV nicht wirklich weiter. 


Also ziehe ich Steinbrecht zu Rate. Er  hat in seinem Buch "Gymnasium des Pferdes" geschrieben, dass perfekt gebaute Pferde nur selten zu bekommen sind, weil sie rar und dementsprechend teuer sind.

 

"Dieser [Der Bereiter] muss daher seine Kunst hauptsächlich auf schwache und ungünstig, ja selbst fehlerhaft gebaute Pferde verwenden, und bei diesen letzteren die Dressur zur Heilgymnastik erheben."(S.52)

 

Ich nähere mich einem Meilenstein im Verständnis um die Gymnastizierung.
Heilgymnastik ist das Stichwort. 


Heilen. Gesund machen. Gesundheit.

 

Die Gesundheit unserer Pferde.
Die uns Allen doch am Herzen liegt!

 

Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Aussage von Herrn W.:
"Losgelassenheit ist das einzige Grundprinzip, das ein Pferd gesund erhält. Ein Pferd, das nicht losgelassen ist  verspannt sich und wird in der Folge auch immer gesundheitliche Probleme entwickeln."

 

Nun taucht zum Thema Gesunderhaltung des Pferdes die Losgelassenheit auf. Ein weiterer geläufiger Begriff in der Reiterwelt, der anscheinend das Glück hat, noch nicht so inflationär verwendet zu werden, wie die Gymnastizierung.

 

Ziehen wir eine Zwischenbilanz:
Gymnastizierung will das Pferd in seiner Muskulatur, dem Sehnen-, wie auch dem Bandapparat stärken und dient grundlegend der Erhaltung der Gesundheit. 


Besonders wichtig ist es, bei Pferden mit schwierigem Exterieur, planvoll vorzugehen, denn gerade ihnen fallen bestimmte Anforderungen während ihrer Ausbildung zum Reitpferd schwer.

 

"Neben den körperlichen und psychischen Folgen mangelnder Losgelassenheit ist für mich noch ein Punkt entscheidend: bei einem Pferd, das nie losgelassen ist, geht ein Kriterium für seine Belastbarkeit verloren. Weil es immer verspannt ist, merke ich nicht, wann ich es überfordere."

 

An dieser Stelle verzichte ich auf Ausführungen bezüglich der Beschaffenheit von Muskeln und deren gestörter Durchblutung bei Verspannung.

 

Stattdessen, der Versuch einer Definition:
Gymnastizierung ist die gezielte Durcharbeitung des Pferdes unter Berücksichtigung seiner körperlichen Beschaffenheit und seiner psychischen Verfassung zum Zwecke der Gesunderhaltung.

 

Einverstanden? 


Und warum brauchen wir diese Gymnastizierung nun eigentlich? 


Klare Antwort:

Weil wir reiten wollen.

 

Und da ein Pferd von der Evolution nicht zum Tragen von Lasten gebaut wurde, ist es meine Pflicht als Reiter, dafür Sorge zu tragen, dass mein Pferd durch mich keinen Schaden nimmt.

 

Und eines sollte Gymnastizierung auf keinen Fall sein:
Eine lapidare Floskel, mit der Reiter die Löcher der eigenen Unwissenheit stopfen.

 

Ich nominiere "Gymnastizierung"  für das Wort des Jahres.
Auf dass ihrer wahren Intention mehr Beachtung geschenkt wird! 

 

 

 

 

(Zitate des Herrn Weiß haben ihren Ursprung aus persönlichen Gesprächen und Interviews mit den Dressurstudien.)